Frau sitzt nachdenklich am Fenster.
Charlott sitzt nachdenklich am Fenster.

Charlott — Freitag, der 14. März

Der Psy­chodoc hat heute wieder das ver­traute Muster durchge­zo­gen: Er hat mir das Wort „Gefühl“ in die Hände gedrückt, als würde er damit einen Schlüs­sel zu ein­er Tür anbi­eten, die ich seit Monat­en ver­schlossen halte. Er kreiste um das The­ma Fritz – den kleinen, tra­cheotomierten Geist, der still in der Klinik liegt, dessen Atemzüge wie das Tick­en ein­er Uhr sind, die nie aufhört zu mah­nen.

Ich spürte, wie eine kalte Hand über meine Brust fuhr, während er fragte, ob ich mir eingeste­hen kön­nte, dass ich ihn liebe, dass ich Angst habe, ihn zu ver­lieren, dass ich mich sog­ar manch­mal wün­schte, er würde gehen, damit das end­lose Zit­tern in mir ver­s­tummt. Ich wusste, dass ich an dieser Schwelle ste­hen blieb. Statt zu antworten, ließ ich die Sprache in meinem Hals erstar­ren und richtete meinen Blick nach draußen, auf das graue Feld, das sich hin­ter den Vorhän­gen der Rehak­linik aus­bre­it­ete. Der Wind drück­te, trom­melte leise an das Fen­ster, und ich suchte dort nach ein­er Stille, die meine Worte nicht tra­gen würde.

Im Inneren des Raumes war das Sum­men der Kli­maan­lage fast ein unan­genehmes Echo mein­er eige­nen Unruhe. Ich hörte das Klick­en der Uhr an der Wand, jedes Tick­en ein weit­eres Mah­n­mal mein­er Schuld, die mich seit dem Tag ver­fol­gt, an dem ich den Job auf­gab, um Fritz zu pfle­gen. Der Psy­chodoc hat­te in sein­er pro­vokan­ten Art ver­sucht, meine Selb­st­täuschung zu zer­schnei­den, doch ich hielt mich fest an der Fas­sade der Unsicht­barkeit. Ich dachte an die vie­len Male, als ich mit der Schreib­mas­chine auf dem kleinen Tisch in meinem Zim­mer getippt habe, wenn die Real­ität zu schw­er wurde, um sie mit bloßen Worten zu fassen.

Während er weit­er nach mein­er inneren Wahrheit bohrte, zog ich die Knie an meine Brust, ließ die Hände auf dem kalten Met­all­rah­men des Stuhls ruhen und hörte nur das leise Rauschen des Lüf­tungss­chachts. Meine Gedanken flo­gen zurück zu den nächtlichen Alarm­sig­nalen des Pflege­di­en­stes, zur Pflegerin A., die stets ver­sucht, uns Eltern mit beruhi­gen­den Worten zu überziehen, und zu Wern­er, dessen Abstand mich immer weit­er in die Ein­samkeit treibt.

Ich fühlte das Zit­tern mein­er Hände, die ich mit der Kante des Fen­sters berührte, als kön­nte ich die Kälte des Wet­ters, des Windes in mein Inneres ziehen und damit das offene Loch füllen, das meine Stimme hin­ter­ließ. Ein Teil von mir schrie nach Erle­ichterung, nach ein­er klaren Aus­sage: „Ich liebe dich, Fritz, und ich habe Angst, dich zu ver­lieren.“ Ein ander­er Teil hielt die Lip­pen fest zusam­men, weil das Eingeständ­nis zu viel Schwere trage – nicht nur die Angst vor seinem Tod, son­dern auch die Schuld, die ich mir selb­st zuw­erfe, weil ich manch­mal das stille Ver­lan­gen ver­spüre, dass er für mich endlich still wird.

Im Ver­bund mit dem Schweigen des Dok­tors wurde mein Blick zu mein­er eige­nen Flucht. Ich sah die Spiegelung meines Gesichts im Glas, das von der schwachen Sonne durch­zo­gen war, und erkan­nte die Fal­ten, die das Leben in meine Haut ger­itzt hat, die Spuren von Zigaret­ten­rauch, die ich nicht abgelegt habe, und das ble­iche Leucht­en mein­er Augen, das fast wie das eines Junkies wirkt, wenn das Licht zu stark ist. Ich fragte mich, ob ich über­haupt in der Lage bin, das Wort „Liebe“ laut auszus­prechen, wenn es gle­ichzeit­ig ein Mess­er ist, das meine Seele zer­schnei­det. Vielle­icht ist das Schweigen heute das Einzige, was mir noch bleibt – ein dün­ner Vorhang zwis­chen dem, was ich fühlen will, und dem, was ich zulassen darf.

Ich öffnete das Fen­ster, der Doc star­rte irri­tiert, drang kalter Win­ter­wind in den Raum, ließ die Vorhänge tanzen und riss ein wenig von der schw­eren, stick­i­gen Luft aus meinem Inneren. Vielle­icht ist das ein Zeichen, dass ich nicht völ­lig gefan­gen bin. Vielle­icht kann ich, wie das Glas, ein wenig trans­par­ent wer­den, das Licht ein­lassen und trotz­dem die Bruch­stellen zeigen, ohne sie zu verstecken.Ich weiß, dass ich mor­gen wieder in den Raum des Psy­chodoc zurück­kehren werde, dass er wieder mit sein­er Frage nach meinen Gefühlen zu mir kommt.Aber heute habe ich zumin­d­est den Augen­blick gefun­den, in dem ich mein Schweigen nicht als Zeichen von Schwäche, son­dern als ein kleines, zit­tern­des Auf­bäu­men gegen die erdrück­ende Erwartung sehe.Vielleicht ist das der erste Schritt, das Wort„Gefühl“ endlich zu benen­nen, ohne dass es in meinem Inneren zer­schellt.

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