Charlott, Donnerstag — 13. März
Der Regen prasselt auf das vergilbte Dachfenster am Nebenhaus, schlägt an mein Fenster wie das ständige Piepen des Beatmungsgeräts von Fritz. Ich sehe die Tropfen wie kleine, kalte Messer auf das Holz des Fensterrahmens – sie schneiden in die Stille, die ich mir seit Wochen zusammengebissen habe. In mir dreht sich das Rad meiner Gedanken: Schuld, Wut, Verzweiflung. Ich greife nach der Schreibmaschine Erika, das kalte Metall an meinen Fingern, und weiß: Wenn ich hier tippe, gibt es kein Zurück mehr.
Schuld – sie sitzt im Nacken, schwerer als das Beatmungsgerät, das mein Sohn jede Minute, jede Sekunde am Leben hält. Ich habe ihn nie ausgesucht; er kam in unser Leben, ein zerbrechlicher Körper, ein stummes Gesicht, das nie lächelt. Und doch habe ich mich verrannt in dem Gedanken, dass ich ihn retten muss – allein. Der Job, der löste sich auf in Pflege, die Wohnung wurde kalt, meine Freunde (wenn ich überhaupt welche noch habe) schob es in den Schatten von Fritz.
Eine Verdunklung, damit ich ständig bereit bin, wenn die Kanüle im Hals zuläuft, das Beutelwasser der Beatmung leerläuft oder im Atemschlauch der Beatmung das abgestandene Wasser sich hin- und herschiebt. Was für ein Götterspiel, das ich mir ausmale: „Ich will ihn retten, ich will, dass er weiterlebt.“ Und dann, im tiefsten Moment der Erschöpfung, flüstert ein Teil von mir: Vielleicht wäre es besser, wenn er einfach sterben würde. Das ist kein Mitleid, das ist das pure Messer, das ich mir selbst in die Hand gestreichelt habe. Schuld, weil ich das Doppelmord-Feeling nicht erschüttern kann, weil ich gleichzeitig die Mutter sein muss, die alles tut – und gleichzeitig die Frau, die sich wünscht, dass das Leben, dieses Leben endlich aufhört, zu schreien.
Wut brennt jetzt wie ein Streichholz, das ich in die leere Flasche schmeiße. Auf mich selbst: für das Versagen, kein richtiges Leben zu führen, für das Verdrängen der eigenen Bedürfnisse, für das ständige „Ja, ich helfe!“ an die Pflegedienste, die mich ständig wie ein nerviges Parfüm einatmen. Auf Werner, den Stahlhelm meiner Ehe, der auf Montage verschwindet und dann zurückkommt, als wäre er nie weg gewesen. Er schaut mich an, als wäre ich das kaputte Gerät, das repariert werden muss.
„Charlott, du bist zu schwach“, flüsterte er manchmal, ohne es zu merken. Wie kannst du, Waldmädchen, dich im eigenen Wald verfangen? Ich habe das Gefühl, er ist ein Schatten, der mich nur dann berührt, wenn er nicht arbeitet, wenn er mich daran erinnert, dass ich nicht die einzige bin, die hier leidet. Und ich hasse ihn dafür, dass er nicht offen das Urteil über mich aussprechen kann, weil er Angst hat, mich zu verlieren. Ich hasse mich, weil ich die Schwester meiner eigenen Schuld bin und gleichzeitig das Opfer meiner eigenen Angst.
Verzweiflung ist das gebrochene Glas, das überall liegt: Scherben von früheren Träumen, die ich mit den Händen zusammenfummeln will, aber nie ganz greifen kann. Ich sehe die Hände meiner Mutter im Spiegel, die auf mich zucken, wenn sie sagt: „Du musst stark sein, Charlott.“ Stark? Was soll das heißen, wenn ich im Shop stehe und nicht mehr arbeiten darf, wenn ich nachts auf dem Flur der Klinik stehe und das Piepen der Monitore laut genug ist, um meine Ohren zu bluten?
Ich habe keine Kraft mehr, die Tür zu öffnen, die mich zurück in die Realität schiebt. Schiebt in diese Wohnung, die so wenig Licht hat, die so viele leere Stühle hat, die keinen Platz für mich, sondern nur für Fritz, für die Geräte, für die Pflege hat.
Ich lege meine linke Hand auf das Papier neben Erika, ziehe das Farbband nach und fühle mich, als würde ich meine eigene Existenz ausdrucken, nur um sie dann sofort wieder zu verbrennen.
Jetzt, hier, in diesem gechlammten Zimmer, verbinden sich diese drei Gesichter zu einem monströsen Meme: „Ich liebe ihn, und ich will ihn los.“ Schuld, weil ich ihn nicht loslassen kann; Wut, weil ich ihn nicht loslassen darf; Verzweiflung, weil ich keine Wahl habe. Das ist das Kerngeflecht, das mich zerreißt. Ich habe das Gefühl, dass jedes Wort, das ich hier tippe, ein weiterer Nagel im Sarg meiner Selbstachtung ist. Noch ein Kapitel, in dem ich mich weigere, die Wunde zu schließen, weil sie zu schmerzhaft ist, zu hässlich, zu echt.
Und dann, zwischen den Zeilen, ein letzter Gedanke, der sich wie ein kalter Schauer über meine Wirbelsäule legt: Vielleicht ist das Aufblitzen des Konflikts genau das, was ich brauche, um mich zu befreien. Vielleicht muss ich zulassen, dass das Drama, das ich in mir selbst inszeniere, explodiert, damit ein neues Stück kann – eines, das nicht mehr nur aus Schuld und Wut besteht, sondern aus einer eigentlichen Entscheidung. Es ist ein Gedanke, der mich fast verrückt macht, weil er verlangt, das unaussprechliche Wort zu sagen: Ich will, dass er geht. Und das Wort schlägt wie ein Hammer gegen das Herz meiner eigenen Geschichte.
Ich lege den Stift zurück, die Tür zum Fenster bleibt offen, das Regenrauschen bleibt.
Ich sitze hier, mit nichts mehr, als diesem zerfurchten Blatt Papier, das meine Stimme trägt – laut genug, um gehört zu werden, aber leise genug, um nicht zu zerbrechen.
– Charlott
