Charlott 2 ©
Fritz hier, Fritz dort und ich muss immer in seiner Nähe sein. Ich könne auch mal weggehen, hatte mir mal eine Schwester vom Pflegedienst untergeschoben, ganz dezent. Wohin? Wohin mit 35. In die Singlebar, warten bis bei einem der Herren sich was in der Hose regt.
Doch es ist etwas verloren gegangen. Mit jeder Behinderung geht etwas verloren, unwiderruflich und nun der Ersatz, ihn zu finden, zu erkennen. Ach, was denke ich schon wieder. Die schöne Seite, der Werner. Ein zweites Kind, davon hatte er letztens geredet und hat sich ganz fest an mich gedrückt, mir über den Bauch gestreichelt. Ein zweiter Bub oder ein Mädel. Ich atmete tief durch. Wenn das so einfach wäre und wie ist es mit der Liebe, bleibt Werner bei mir, auch wenn das zweite Kind behindert wäre, wenn.
Am nächsten Tag hatte mich die Hilde erwischt in dem Kreis der Gedanken darüber. Ich sei immer nur abwesend, meinte sie. Ich erzählte hier von Werner seinen Wunsch. Sie schaute mich mit einem unterdrückten Lächeln an und meinte: “Aber wenn ein Mann von dir ein zweites Kind möchte, und gerade auch ein Mädchen. Ist es nicht der Beweis seiner Liebe, mehr als nur, ich will weiter mit dir das Leben verbringen.” “Klar, Hilde, kann schon sein.” Ich versuchte dabei mein Erröten im Gesicht zur Umkehr zu überreden. Null Chance. “Auch ist es ja nicht wie in den Mafiakrimis,” meinte Hilde weiter, “wo der Pate seine Frau nur schwängert, um einen Nachwuchs bekommen.” Nee, ist es wirklich nicht und gibt es eigentlich auch einen Paten mit einem behinderten Kind?
Charlott 2 (b)
Ein ganzes Leben in der Warteschleife, geweckt durch ein grellen Alarm und wenn die Maschine die Atmung wieder hat und der Puls wieder seinen Rhythmus gefunden hat, Standby. Die meisten Elektrogeräte verbringen ihre Lebenszeit in der Warteschleife. Auch Nachts, immer. Pfeift zu lange der Alarm, klacksen Schritte durch den Flur, ich schalte um auf wach. “Mädchen, du musst dich schon ein wenig ordentlich … Du kannst nicht einfach im Nachthemd vor den fremden Leuten …” hatte mir meine Mutter erklärt. Klar, muss ich, ich bin jetzt öffentlich, warum nicht gleich in ein leeren Laden ziehen, in die City, mit großen Schaufenster. Na, so schlimm wird es nun auch wieder nicht sein, meinte Hilde mal, als ich mich bei ihr ausheulte. Ich blieb still, hielt den Gedanke in mir fest und schrieb irgendwann mal die Frage auf eine alte Zeitung: Ab welcher Behinderung ist man eine öffentliche Person? Als Werner es fand glotzte er mich nur an. Er versteht auch nichts. “Geh doch mal aufs Amt.” schnitt ich ihn sein erstes Wort.
Charlott 2 (a)
Doch das geht nicht in deren Schädel rein, es scheint sich in keiner Gehirnwindung der Stuhlinhaber auf dem Amt einzuritzen. Fritz ist nicht wie jedes Kind, er ist tracheotomiert, behindert. Ja die medizinische Seite, das können wir nicht beurteilen, heißt es dann immer als Antwort. Die Rechnung ist einfach ungleich. Einmal sagte mir mal eine Sachbearbeiterin: “Ja, wissen sie, jedes Kind ist einzigartig.” Klage ich, wie könnte ich. Mich verstecken, einwühlen zwischen den Decken, neben mir mein schlaffes Kind, was noch an der Beatmung angeschlossen ist. Doch sein Bett ist zu klein. Erstarrt bin. Konnte ich jemals duschen, als ich mit Fritz alleine in der Wohnung war, nicht mal ins Bad habe ich mich getraut, allein mit Fritz, mit der Angst, jede Minute könne seine Kanüle raus fallen, in jeder neuen Minuten könnte er brodeln und muss abgesaugt werden. Jeder Hautarzt würde sich freuen: Zuviel Wasser und Seife
Charlott 1 (i)
Davor, alles war unkompliziert, zwanzig Zigaretten wanderten pro Tag durch meine Hände, drei Glas Wein. Mehr durfte ich nie, mehr sollte ich nie, meinte Werner. Er und seine Angst wenn ich angeheitert nach hause kam und mein Lärm die Nachbarschaft aufweckt. Was soll diese Angst, diese Nachbarschaft. Starren auf Fritz ohne ein Wort, ohne eine Frage, ohne eine Nähe. Fritz, bitte gib mir deine Hand und halte mich fest, halte die Träne in mir.
Doch der Bub ist in solchen Dingen total passiv. Wie auch, wie soll er meine Hand halten, wenn er nicht mal versteht seine Hände selbst zu dirigieren. Nichts da und keine Hoffnung auf Entwicklung, auf einen Schritt nach vorne, ins normal.
Hatten sie auch anderes außer Alkohol zu sich genommen, fragte mich letztens mein Therapeut. Ob ich? Muss ich auf solche Fragen antworten? Ich verneinte, wie ein Davor, ein vor dem Fritz, vor der Geburt in dieser Stunde. Es klingt wie die Frage, ob ich jemals glücklich war. War ich es?
Du schaust traurig aus, Mädchen, sagte meine Mutter immer wenn ich aus der Schule kam und ich übersehen wurde von dem Jungen, denn ich abends im Bett in meine Träume einlud, wo ich mich an ihn schmiegte und einen Kuss auf seine Oberarme gab. Der Traum zersprang am Ende des Unterrichts.
Charlott 1 (h)
“Kommen sie klar damit?” oder “Brauchen Sie Hilfe?” folgte den Gesprächen hinterher. Ich brauchte Ruhe, einfach Ruhe, Zeit und eine Zigarette. Gebt mir eine Zigarette. Überall in der Klinik herrschte Rauchverbot und doch Fritz, ich konnte ihn nicht alleine lassen. Der Hunger nach dem Nikotin verzog sich. Dann, nach Tagen Fieber, dem x‑ten Wechsel der Antibiotika, die Frage nach den Wohin, wohin soll seine Reise gehen? Ins Grab, doch dafür, dafür waren wir nicht bereit. Werner hatte sich frei genommen von der Arbeit und verneinte diese Antwort wie ich. Nicht Fritz, bitte noch nicht. Wir unterschrieben den nächsten Fahrplan, alles soll getan werden.
Am nächsten Morgen war er aus seinen Zimmer verschwunden, in den OP. “Ihr Sohn bekommt gerade einen Luftröhrenschnitt.” erklärte ein Kittelträger, “seine Nase fing plötzlich stark zu bluten an. Glauben sie mir, es war die einzige Entscheidung.”
Die einzige Entscheidung, für was, für sein Leben? Ich wollte ihn Werner seine Arme, doch Werner war erstarrt. Luftröhrenschnitt. Später, später kam dann heraus, es war die einzige Entscheidung. “Sein Kehlkopf war so stark geschwollen, dass er nicht weiter über den Mund beatmet werden konnte. Eine Tracheotomie war leider unausweichlich geworden, sonst wäre er gestorben.”
Charlott 1 (g)
Mit dem zu dünn, dass hat sich endgültig gelegt. Jetzt, wenn mich meine Mutter besucht, bekomme ich eher das Gegenteil zu hören. Deine Figur ist über den normalen Verhältnissen. Welchen Verhältnissen? Etwa die der Frauenmagazine, die eine Diät nach der nächsten präsentieren und zwischendurch Strickmuster für das abendliche Fernsehprogramm. Mutter vergiss es, ich möchte von dieser Diskussion nichts hören. Wenn es Werner gefällt, wenn er immer noch seine Hände über meinen Po streicht, dann gibt es keine Korrektur.
Ach Werner. Letztens kam mein Psychodoc wieder ins Gespräch über, ob ich mich noch geliebt fühle. Geliebt, von Werner, außer von Werner. Vom Fritz, mein Bub. Liebe, Zuneigung, kennt dies der Fritz? Manchmal, wenn ich mit ihm rede, er dann seinen Kopf zu mir dreht, dann denke ich, jo, na klar, der Fritz, der versteht mich, meine Welt. Er ist meine Welt und ich glaube, er vermisst mich.
Charlott 1 (f)
Kannste echt in den Skat drücken. Eigentlich ein Satz von meinem Großvater, aber seitdem Fritz geboren ist, ist der Satz auch nicht mehr aus meiner Welt wegzudenken. Einmal sind es die Leute in der Krankenkasse und dann der ganze Mief auf dem Amt. Tschuldigung, falls das Wort Mief nicht ganz passt, aber es lässt sich kaum anders sagen. Da entscheiden Menschen über Fritz, was er braucht, was nicht, ohne ihn einmal gesehen zu haben, ohne überhaupt verstanden zu haben: Was hat denn der Bub?
Was hat er denn? Ja, was. Die Mediziner wissen es nicht, bis auf die Diagnose Epilepsie und seine Behinderung tun sie ab mit: “globaler Entwicklungstörung”. Vor ein paar Tagen fragte mich eine Frau danach. Ich zuckte mit den Schultern und sagte: “schwere Behinderung.”
Ich hätte nie geglaubt, so häufig dieses Wort “Behinderung” gebrauchen zu müssen. Hätte ich nie. In der Jugend nicht, dort war das häufigste wohl: “Haste mal ne Kippe?” oder später, als die Partys gesitteter wurden, hieß es: “Haste mal ne Zigarette?” oder Papers, Tabak. Heute fragt mich keiner mehr danach und ich selbst, ich vergesse den Dunst einfach. Nur dann nicht, wenn ich aus diesen elendigen Sitzungen komme, die mein Leben breit treten. Da zieht sich meine Lunge zusammen und es dürstet mich nach dieser Schwere im Kopf, dem knisternden Papier um dem Tabak.
Charlott 1 (e)
Fieber und bitte keine Rede von, jetzt geht doch endlich mal in die Klinik. Der Kinderarzt war da und starrte auf den Jungen als wollte er sagen: dass der noch lebt. Ich frage mich jedes mal bei seiner Anwesenheit, ob ich gehen soll, damit er endlich sein Stethoskop auspackt, doch wenn ich mich dann der Tür zu bewege oder meine Stimmbänder auspacke für das erste Wort, greift er zu seiner Tasche und holt die Utensilien raus. Fieber, Lunge frei, Bauch ist entspannt und, die Aufzählung endete. Er packte seine Werkzeuge ein, redete von Kulturen mit Bakterien, wenn morgen sich die Temperatur nicht unter 38 absenkt wäre ein Antibiotikum empfehlenswert.
Charlott 1 (d)
“Schau mal, zu der Zeit, wo alles begann und vergiss …” Ich legte den Hörer auf. Ich lass mich doch hier nicht bequatschen, was gut war, was nicht und dies von meiner Mutter. Was habe ich, wir alles erreicht, bewältigt und da müsse es mir doch gut gehen. Nee, nicht mit mir. Es läuft gerade nicht toll, milde gesagt, und da hilft auch nicht, wenn ich es schön male mit dem, was gewesen ist.